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Waldfrüchtchen, Teil1

von Sofie Meys

 

Eiche

„Pass‘ auf dich auf, Kleines!“
„Du auch, Papa“.
Ein riesiger Schulranzen auf zwei dünnen Beinen bewegte sich auf das Schulgebäude zu . Er blickte ihm lächelnd nach und fragte sich wohl zum tausendsten mal, ob er der Aufgabe, so einen kleinen Menschen eigenverantwortlich groß zu bekommen, überhaupt gewachsen war. Gab er ihr das richtige Essen oder warum war sie so klein und zart? Konnte er ihr auch genug Nestwärme vermitteln?
Immerhin wohnten sie beide jetzt in einem kuscheligen kleinen Reihenhaus und das taten andere Familien ja auch. In der etwas spießigen Gegend gab es eine ganze Reihe gleichaltrige Kinder und er hoffte sehr, dass Natascha hier Freunde zum Spielen finden würde. Leider hatte es Natascha aber noch nicht viel weiter als bis zur nächsten Haustür geschafft. Hier wohnte die ein Jahr ältere Carolin mit ihrer Mutter.
Er verzog angewidert das Gesicht. Es musste daran liegen, dass Natascha zu schüchtern ist. Sonst hätte sie doch sicherlich schon eine Menge  Freundinnen gefunden. Kleine niedliche Mädchen, so wie sie selber eins war und die somit perfekt zu ihr passten.
Nein, natürlich hatte er nichts gegen Carolin, dachte er fast ein wenig schuldbewusst, so als könnte irgendjemand seine Gedanken nicht nur lesen, sondern vielleicht sogar auch noch verurteilen.
 Kinder sind ja immer irgendwo nett und liebenswert, wenngleich es gelegentlich Ausnahmen gibt... Und hätte Carolin wenigstens eine sympathische Mutter, mit der man etwas anfangen konnte, also reden oder sich beim Kochen beraten lassen oder andere nützliche und hilfreiche Dinge tun, -mal was zusammen trinken oder so… - ja dann würde er bei Carolin sicher auch ein Auge zudrücken können.
Ja, das wäre schon etwas, wonach er sich sehnte, eine Nachbarin, mit der man bei einem Glas Wein zusammen sitzend die  Abende verbringen könnte. Das schöne Gefühl, dass nebenan eine gute Seele über einen wacht, man sich sicher und geborgen fühlte. Das Alleinsein war nichts für ihn, da bestand für ihn kein Zweifel. Aber was blieb ihm denn anderes übrig? Er, der gutaussehende Sonnyboy, dem die Frauen sein Leben lang immer zu Füßen gelegen hatten, hochgewachsen, durchtrainiert und immer top-gestylt, brachte es nicht zustande, eine vernünftige Beziehung aufzubauen?
Oder war womöglich sein kleines Töchterchen der Grund dafür, dass er mit Frauen eher oberflächliche Freundschaften einging und dass er immer, wenn es ernst werden könnte, den Schwanz einkniff und davonlief?
Dann tröstete er sich für gewöhnlich damit, dass er ja immerhin noch seine Tochter hatte, die ihm über die schlimmsten und einsamsten Tage mit ihrer natürlichen und ansteckenden Fröhlichkeit hinweg half.
Vanessa war damals, vor fast 6 Jahren, gleich nach Nataschas Geburt wieder in ihre Heimat Rumänien zurück gegangen und konnte sich ihren sehnlichen Wunsch, zu studieren, erfüllen. Es war für alle wohl das Beste gewesen. Sie war damals gerade mal 19 Jahre alt.
Aber leicht war das für ihn, den Frauenschwarm und Lebemann tatsächlich nicht gewesen, mit 24 Jahren plötzlich ein alleinerziehender Vater zu sein.
Bei solchen Gedanken versetzte es ihm regelmäßig einen Stich in seinem Herzen. Ja, hätte er doch eine Frau, die mit ihm durch dick und dünn ging.
Aber wo versteckte sich die Liebe seines Lebens? Es konnte doch nicht sein, dass für ihn ein Leben ohne Partnerin, - ohne feste Partnerin-  vorbestimmt war? Klar, hatte er immer mal wieder irgendwelche Liebeleien und es war schwer genug, an einen guten ‚Babysitter’ zu kommen, aber bisher war ihm noch keine Frau begegnet, bei der er den dringenden Wunsch verspürt hätte, eine gemeinsame Zukunft aufzubauen…

Brigitte Wenzel war Witwe. Vor 3 Jahren hatte sie ihren Mann bei einem Autounfall verloren. Endlich hatte sie wieder einen interessanten Job bei einem Verlag gefunden und mit ihm einen Weg aus ihrer zuerst so ausweglos empfundenen Situation. Jetzt schaffte sie, woran sie kaum noch geglaubt hatte,  mit Optimismus nach vorne zu blicken, in eine Zukunft, die ja vielleicht doch noch einige Überraschungen für sie bereit hielt.
Ihre Tochter Carolin besuchte die 2. Klasse einer Euskirchener Gemeinschaftsgrundschule.
Dichte blonde Haare umrahmten ein rundliches Gesicht, auf einer vorwitzigen Stupsnase trug sie nicht ohne Stolz eine lustige Nickelbrille. Für ihr Alter war sie schon recht groß und dazu kräftig gebaut.
Carolin gefiel es sehr, dass ihre neue Freundin Natascha stets bewundernd an ihren Lippen hing, ganz egal, was sie auch erzählte.
Die beiden Mädchen konnten unterschiedlicher nicht sein und hatten sich dennoch auf Anhieb verstanden, sich quasi gesucht und gefunden, oder mehr noch, waren sie inzwischen sogar schon unzertrennliche Freundinnen geworden.
„Papi, ich geh rüber zu Carolin. Wir wollen heute Brötchen backen.“
„Wer ist ‘wir’?“ fragte Klaus Gärtner.
‘Carolin, Carolins Mutter und ich“ antwortete Natascha.
Klaus Gärtner machte ein mürrisches Gesicht.
„Ich habe heute einen freien Tag. Mara und ich wollten mit dir Schwimmen, in den Zoo oder sonstwo hin“.
‘Ich will aber nicht sonstwo hin. Ich will zu Carolin. Mara ist doof. Alle deine Freundinnen sind doof. Bei Carolin ist es viel schöner. -
Und Carolins Mutter stinkt nicht so nach Parfüm wie Mara.-
und außerdem - kannst du nicht über mich bestimmen.“
Noch ehe er etwas erwidern konnte, rannte seine Tochter mit trotzig verzogener Schmolllippe zur Tür hinaus.
Ratlos schaute Klaus Gärtner seiner Tochter nach.
Mein Gott, was bin ich nur für ein Waschlappen als Vater, fuhr es ihm durch den Kopf.  Wie es aussah, schaffte er es einfach nicht, sich bei seiner Tochter durchzusetzen. Das wäre ja alles halb so wild, viel mehr ärgerte ihn, dass Natascha sich anscheinend nebenan bei Frau Wenzel und Carolin so wohl fühlte. Die beiden würden ihm das Kind noch vollständig entfremden. Frau Wenzel, dieses Hausmütterchen, mit ihrem Koch- und Backtick - selbstverständlich alles nach den Regeln der Vollwertkunde - und ihren abgetragenen Uralt-Jacken, die sie immer bei der Gartenarbeit trug. Und Carolin, diese altkluge kleine Besserwisserin, in deren Anwesenheit er sich manchmal wie ein dummer Schuljunge fühlte.
Er spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Sie reichte immerhin aus, um ihn in  Bewegung zu setzen und die wenigen Schritte bis zur Haustür der Wenzels zurück zu legen, ohne, dass ihn der Mut schon wieder verlassen konnte.
Auf sein heftiges Schellen hin wurde die Tür nur einen schmalen Spalt geöffnet, zwei kichernde kleine Persönchen rannten einfach fort, als sie den Besucher erkannt hatten und ließen ihn dort draußen vor der Tür stehen.
Diese frechen Gören!  Kurz darauf schaute ein Kopf mit wuscheligen braunen Locken durch diesen Spalt, blickte  in das wütende Gesicht von Herrn Gärtner, schien  keine große Notiz davon zu nehmen, jonglierte ihren Fuß – auf einem Bein stehend -  in den Türspalt und stieß die Tür schließlich mit dem Fuß vollends auf.
„Oh, Herr Gärtner, kommen sie doch herein. Wir sind gerade beim Backen.“ Brigitte Wenzels Hände waren weiß vom Mehl, ihre Wangen im rundlichen Gesicht gerötet. Braune Locken standen wirr von ihrem Kopf ab.
Hatte sie sich heute womöglich noch gar nicht gekämmt? Auf Herrn Gärtners Stirn bildete sich eine tiefe Querfurche: „ Ich möchte Natascha abholen. Wir wollen gleich wegfahren.“
„Oh, wie schade. - Natascha , dein Vater möchte dich abholen.“ rief sie in Richtung Küche.
Sie schaute ein wenig enttäuscht und warf ein vorsichtiges Lächeln in Richtung des mürrischen Besuchers. Klaus Gärtner blickte ungerührt an ihr vorbei und fixierte dabei den Flur des kleinen Reihenhauses, auf dem seine Tochter hoffentlich sehr bald erscheinen würde.
Langsam kam Natascha auf ihn zu . Sie schaute ihren Vater wütend an.
„Ich will nicht mit euch wegfahren. Ich möchte lieber Brötchen backen.“
„Du kommst mit“, sagte Herr Wenzel bestimmt, packte seine Tochter am Arm und zerrte sie mit sich davon.

 

Bayrischer Wald an einem warmen , sonnigen Septembertag.

 

Klaus Gärtner und Brigitte Wenzel verlassen , gefolgt von Natascha und  Carolin, ihren  Tisch in der kleinen Pension. Sie hatten gerade ein reichliches Mittagessen zu sich genommen.
Es war ihm verdammt nochmal nicht leicht gefallen, das Angebot seiner Öko-Nachbarin, wie er sie heimlich nannte, anzunehmen und Natascha mit ihr und ihrer Tochter in die Ferien fahren zu lassen. Diese Fortbildung war einfach enorm wichtig für ihn und versprach ihm zudem die Leitung eines interessanten Projektes, welches sein Arbeitgeber, der Fremdenverkehrsverein der Stadt Euskirchen im nächsten Jahr plante. Ausgerechnet jetzt musste seine Mutter krank werden, die ihm so häufig bei der Betreuung von Natascha hilfreich unter die Arme griff.
Wenn er auch nicht sonderlich gut auf Frau Wenzel zu sprechen war, so wusste er doch, dass  Natascha gut bei ihr aufgehoben war. . Nun war er an diesem Wochenende für einen Tag zu Besuch gekommen hier in diese Einöde des bayrischen Waldes. Es war ihm unbegreiflich, wie Menschen hier inmitten eines tristen und einsamen Waldes ihre Ferien verbringen konnten..
„Die Kinder und ich wollen heute Nachmittag eine Wanderung  machen. Sie kommen doch sicher mit, Herr Gärtner?“
„Eine Wanderung?“ entfuhr es ihm. „Ich bin doch gar nicht auf Wandern eingestellt.“

Wald


Er war empört. Was bildete sich diese Frau bloß immer ein . Sie hätte ihn doch fragen können, was ER gerne machen möchte, wo er schon  für einen Tag hier war und bald schon wieder mit seinem BMW Richtung Heimat brausen würde.
„Aber wir haben schon die Rucksäcke gepackt. Die Kinder wären furchtbar enttäuscht, wenn die Wanderung ausfällt.“
„Ja, Papi“ mischte sich Natascha ein. „Wir wollen wandern gehen. Dort gibt es auch Rehe und echte Wölfe“.
„Es könnte auch sein, dass wir einen echten Braunbären treffen“, erklärte Carolin in ihrer Oberlehrer-haften Art. „Die besiedeln den Wald in Tschechien und Tschechien grenzt ja an Bayern.“
„Was du nicht sagst“, antwortete Klaus Gärtner spöttisch. „Da hat dir aber sicher jemand einen anständigen Bären aufgebunden“. Er lachte ein wenig gehässig. „Könnt ihr die Wanderung denn nicht morgen machen? Dann bin ich wieder weg und ihr habt freie Bahn, könnt in aller Ruhe Hirsche jagen und Bären füttern.“
„Nein, Papi, heute. Morgen regnet’s bestimmt. Gestern hat’s auch geregnet.“ Natascha  schaute flehend zu ihrem Vater. Dieser gab sich schließlich doch noch geschlagen.  Warum wurde er bei dem Blick seiner kleinen Tochter nur immer wieder weich.
„O.K., aber bitte nicht so weit. Ich habe wirklich nicht die passenden Sachen an.“
Nach einer kurzen Mittagspause waren alle zum Abmarsch bereit. Die Kinder stürmten voran. Gleich hinter der Pension ging  es  in den Wald hinein. Die beiden Elternteile folgten der zweiköpfigen Rasselbande schweigend .
Brigitte Wenzel hatte sich für diesen Urlaub anscheinend perfekt ausgerüstet. Sie trug Trekking-Schuhe und einen hochmodischen knallgelben Gore-tex Parka. Dazu einen überdimensional großen roten Rucksack, der Klaus Gärtner vermuten ließ, dass sie ihren kompletten Hausstand darin verstaut haben musste.
Er folgerte außerdem, dass sie sich für diese Ferien ganz schön in Unkosten gestürzt hatte. Normalerweise trug sie Kleidung, die selbst in einer Altkleidersammlung noch aufgefallen wäre, im negativen Sinne natürlich… er hing mit unbeweglicher Mine seinen nicht sehr freundlichen Gedanken der Nachbarin gegenüber nach.
Diese zeigte von Zeit zu Zeit begeistert auf blühende  Pflanzen am Wegesrand, deren Namen sie alle zu kennen schien. Sogar Carolin glänzte mit den allerverrücktesten Pflanzennamen und reckte bei jeder Pflanze, die sie benennen konnte, ihre Nase noch ein Stückchen höher nach oben.
„Stinkender Storchschnabel!“, rief sie gerade und Natascha fing an zu kichern. Ihre Mutter kam auch sogleich angerannt, um dieses stinkende Etwas zu bewundern. Er trat vorsichtshalber einen Schritt zurück, denn man konnte ja nie wissen, wozu eine Pflanze mit einem so unappetitlichen Namen fähig wäre.
Allmählich begriff er auch, warum die Menschen Wanderschuhe trugen, wenn sie in die Berge fuhren. Seine auf Hochglanz polierten Lederschuhe versagten ihm auf den lehmig feuchten Wegen gehörig den Dienst und es ärgerte ihn nun ungemein, dass er nachgegeben hatte und sich nun hier auf einer Wanderung mitten durch einen finsteren und unwirtlichen Wald befand.

Wildblumen


Er fühlte sich wie ein Fremdkörper zwischen den drei anderen fröhlichen Teilnehmern dieser seltsamen Expedition.
Nach ca. eineinhalb Stunden wurde von Frau Wenzel eine Rast angeordnet. Widerspruch schien zwecklos zu sein.
Es wurden Getränke herumgereicht. Sogar warmer Milchkaffee aus einer großen Thermoskanne war dabei, der, - das musste er zugeben -  gar nicht mal so schlecht war. Seine geschundenen Füße von sich gestreckt, setzte sich Herr Gärtner auf eine alte Holzbank, die wohl schon sehr lange hier am Wegrand stand und gemütlich vor sich hin moderte.
Es würde doch hoffentlich  bald wieder zurück Richtung Pension gehen? Er wollte diese Wanderung so schnell wie möglich hinter sich bringen. ..
Doch sollte sich seine Hoffnung nicht erfüllen. Nach einer Viertelstunde ging es weiter und der Vierertrupp unter Leitung von ‚Frau Oberschlau’ wanderte immer weiter in den dunklen und einsamen Wald hinein.
An einer Wegkreuzung bogen sie links ab. Der Wald wurde dichter, der Weg schmaler. Es fiel ihm auf, dass ihnen schon seit geraumer Zeit kein einziger Wanderer mehr entgegengekommen war. Das machte ihn aber nicht besonders traurig, schien es ihm doch so, als hätten die wenigen Wanderer, die ihnen begegnet waren, allesamt nur verächtlich auf ihn geschaut. Regelrecht von oben herab gemustert hatten sie ihn und beim Blick auf sein edles Schuhwerk nur noch mit dem Kopf geschüttelt. Sollten sie doch....
Schon wieder spürte er Ärger in sich hochsteigen, Ärger auf 'diese dumme, kleine Pflanzen-Zicke' ....
Es schien absolut zwecklos zu sein, seine entschlossene Nachbarin zum Umkehren zu bewegen. Es machte ihm fast ein wenig Angst, als er dieses Gefühl von Hass in sich aufsteigen spürte. Wie gerne hätte er die pummelige  Frau mit dem wuscheligen Lockenkopf dort in den nassen Graben geschubst und mit einem dicken knorrigen Ast auf ihr kugelrundes Hinterteil....
Frau Wenzels kräftige Stimme  riss ihn abrupt aus seinen unflätigen Gedanken. Er zuckte erschrocken zusammen.
„Ich glaube, wir kehren besser um. Es ist uns schon seit  einiger  Zeit niemand mehr entgegen gekommen, was kein Wunder ist, denn in etwa einer Stunde wird es dunkel werden.“
Ach ja, jetzt bekommt sie es wohl mit der Angst zu tun, diese kleine runde Öko-Wander-Tante:  Einfach so umkehren? Jetzt sofort? Und er wäre am Ende der einzige , der sich nach dieser Wanderung die Füße wund gelaufen hätte? Aus einem unerklärlichen Grund waren ihm mit einem Male seine wunden Füße und seine schicken und inzwischen total verdreckten Designerschuhe gleichgültig geworden. Tief aus seinem Inneren meldete sich eine Stimme, rüttelte  an seinem männlichen Stolz, seinem Ehrgefühl, oder war es am Ende nur eine Art kindlicher Trotz, der ihn zu seiner schnippischen Bemerkung hinriss:
„Sie machen doch nicht etwa schlapp, Frau Wenzel? Jetzt schon umkehren?“
Und dabei guckte er tatsächlich wie ein trotziges Kind. Seine Schuhe waren inzwischen gänzlich vom Lehm verschmiert, da der Regen der letzten Tage die Waldwege in einem völlig aufgeweichten Zustand hinterlassen hat. Selbst seine Strümpfe hatten ihre Farbe von einem  zuvor blütenreinen ‚tennissockenweiß’ in ein unauffälliges und an die Umgebung angepasstes ‚schlammbraun’ gewechselt.
„Ich würde aber doch sagen, dass wir umkehren“
„Und ich würde sagen, dass wir weitergehen“
„Was soll das denn, Herr Gärtner ? Schließlich wollten SIE doch, dass wir nicht so weit gehen!“
„Ich hab’s mir eben anders überlegt.“
Sie waren inzwischen stehen geblieben und standen sich gegenüber,
Auge um Auge.., die eine halb überrascht, halb ratlos, der andere wild entschlossen, sich nicht schon wieder unterkriegen zu lassen.
„Aber warum um Himmels Willen haben Sie denn plötzlich Ihre Meinung geändert?“
„Vielleicht gefallen mir Ihre Vorträge in Pflanzenkunde so gut.“
Frau Wenzel schüttelte verständnislos den Kopf. Dann lächelte Sie und sagte: „Es tut mir leid. Wir hätten Sie nicht zu dieser Wanderung überreden sollen. Das war wirklich egoistisch von mir.“
Erstaunt blickte Herr Gärtner sie an. Damit hätte er am wenigsten gerechnet. Völlig entwaffnet nickte er.
Suchend blickten sie sich nach den Kindern um, auf die sie gar nicht mehr geachtet hatten. Doch von den beiden Mädchen war weit und breit nichts zu sehen. Der enge Waldweg lag düster und einsam vor ihnen und eine unheimliche Stille breitete sich in Klaus Gärtner aus und ließ ihn erschaudern.
„Natascha“ rief er. „Wir kehren um.“ Doch keine Natascha tauchte auf.
„Carolin“ rief nun auch Frau Wenzel. Sie lief ein Stück vor, um die nächste Wegbiegung herum, kam dann Kopf schüttelnd zurück.
„Sie haben sich sicher versteckt“ meinte sie. „Carolin, Natascha, bitte zeigt euch. Es wird bald dunkel und wir müssen noch den ganzen Weg zurückgehen“
„Natascha, Carolin, kommt sofort hierher“ Herr Gärtner brüllte fast. Ärgerlich und ratlos zugleich blickte er zu Frau Wenzel, so als wäre klar, dass diese ja automatisch immer wüsste, was zu tun ist.
„Sie müssen vom Weg  ab, und in den Wald gegangen sein“, sagte sie „Es bleibt uns nichts anderes übrig, als sie dort zu suchen.“ 
„Aber wo um Himmelswillen? Sie können von wilden Tieren  gefressen werden.“
Es schien fast so, als würde dieser große sportliche Mann jeden Augenblick in Tränen ausbrechen.
„In dieser Gegend gibt es keine größeren Raubtiere mehr“ versuchte ihn die Frau mit dem Lockenkopf zu beruhigen.
„Ach ja, wer hat denn vorhin mit Bären und Wölfen geprahlt?“
„Nun ja, das hatte ich den Kindern erzählt, um sie für das Wandern zu begeistern, aber Bären waren schon seit über 100 Jahren nicht mehr hier in dieser Gegend und Wölfe verhalten sich dem Menschen gegenüber..“
„Schon gut, verschonen Sie mich bitte mit Ihren penetranten Ausführungen über Pflanzen oder Wölfe!“
Er schaute mit leerem Blick in die düstere Wildnis, deren Sichtweite langsam aber sicher auf wenige Meter zusammenschrumpfte.
„Aber wir wissen doch gar nicht, wo sie in den Wald gelaufen sind. Links oder rechts vom Weg?“ sagte er dann nachdenklich und mit gerunzelter Stirn.
„Sie sind sicher auf dieser Seite in den Wald gelaufen.“ Frau Wenzel zeigte nach links.
„Woher wollen Sie das denn wissen?“ fragte Herr Gärtner spöttisch.
„Hier auf der rechten Seite ist ein Graben, der durch den Regen ganz rutschig geworden ist. Außerdem stehen hier die Brennnesseln meterhoch. Carolin würde mit ihrer kurzen Hose niemals durch diese Brennnesseln marschieren.“
„Na schön“  Herr Gärtner musste sich eingestehen, dass sie wohl Recht hatte.
„Gehen wir also hier entlang“
Wild entschlossen stapfte er in den dunkel werdenden Wald hinein.
„Warten Sie doch Herr Gärtner. Vielleicht finden wir Spuren.“
„Aus welchem Roman haben Sie das denn?“ fragte er bissig.
Frau Wenzel ignorierte diese Bemerkung und untersuchte konzentriert den Waldboden. Dann blickte sie angestrengt in die Ferne.
„Dort hinten an dem Strauch  sehe ich etwas Rotes“ sagte sie plötzlich. „Ich werde mal nachsehen.“
Langsam ging sie in Richtung der besagten Stelle. Herr Gärtner folgte schweigend und konnte schließlich auch den besagten roten Gegenstand erkennen. Frau Wenzel musste wirklich Adleraugen haben.
„Es ist Carolins Schiebermütze“ rief sie triumphierend. Als sie besagten Strauch erreicht hatten, griff sie  nach der roten  Schiebermütze ihrer Tochter, nahm ihren Rucksack vom Rücken ab und stopfte die Mütze hinein. Dann blickte sie nachdenklich in alle Richtungen.
„Schauen sie dort, Herr Gärtner.“ Sie zeigte in den Wald hinein.
„Ganz da hinten, sehen Sie ...das helle Licht?“
Herr Gärtner schaute angestrengt in die angezeigte Richtung. Jetzt sah er es auch. Nach einigen hundert Metern schien der Wald zuende zu sein. Dort war es noch hell und sonnig . Frau Wenzel nahm ihren Rucksack und ging los.
“Kommen Sie . Sicher sind die Kinder auch dorthin gegangen.“
Er wagte nicht zu fragen, wie sie zu dieser Annahme gekommen ist. Er machte sich mit seiner Fragerei ja doch nur lächerlich. Frau Wenzel hatte anscheinend auf alle Fragen eine passende Antwort. So folgte er ihr schweigend. Seine Schuhe waren inzwischen schon ganz zerkratzt, Hose und Jacke auch in keinem besseren Zustand. Aber das war ihm egal. Hauptsache, sie würden die Kinder wiederfinden.
Der Wald, der hier fast ausnahmslos aus Nadelbäumen bestand, hatte wenig Unterholz, so dass sie gut voran kamen. Sie kamen dem Licht immer näher, magisch davon angezogen und froh, endlich aus dem finsteren Nadelwald herauszukommen. Schließlich erreichten sie es, traten aus dem Schatten der Bäume hervor und waren nicht wenig erstaunt von dem Anblick, der sich ihnen bot. - Vor ihnen befand sich eine tiefe und breite Schlucht von ungefähr 200 m Länge. Das Gelände war steinig und mit Geröll und Felsbrocken übersät, so dass hier nur wenige knorrige Bäume und kleinere Sträucher wuchsen. Der Hang links von ihnen wurde von der untergehenden Sonne rotgolden angestrahlt, während die übrigen Hänge schon fast schwarz dalagen.
„Wunderschön“ sagte Frau Wenzel.
Herr Gärtner widersprach ihr nicht, aber sein Gesicht, das sich ihr nun zuwandte, zeigte große Besorgnis. Frau Wenzel, die es nicht zulassen wollte, dass ihn die Verzweiflung erneut übermannte, zeigte vor sich auf den Boden. - Ein schmaler Trampelpfad schlängelte sich direkt vor ihnen den Hang hinunter.
„Dieser Pfad wird sicherlich von Rehen benutzt. Kommen Sie“
Vorsichtig tastete sie sich den steilen Pfad entlang und hatte dabei erschreckend wenig Ähnlichkeit mit einem Reh. Nach wenigen Metern breitete sich links vom Weg eine grasbewachsene kleine Plattform aus. Dorthin stellte sich Frau Wenzel nun, um auf ihren Nachbarn zu warten, der ihr vorsichtig gefolgt war.
Sie setzte sich in das weiche Gras.
„Von hier aus können wir die ganze Schlucht überblicken. Vielleicht sollten wir hier warten. Ich bin sicher, dass die beiden hier irgendwo sind.“ 
„Ich hoffe, dass Sie Recht haben“
Er setzte sich ebenfalls auf den Boden und streckte seine müden Beine von sich. Für derartige Klettertouren waren seine Designerschuhe nun wirklich nicht geeignet. Schweigend saßen sie dort im Gras, während die Dämmerung über sie hereinbrach. Der linke Hang hatte aufgehört zu leuchten. In kurzer Zeit würde es dunkel werden. - Einige Minuten saßen sie so da. Herr Gärtner blickte verstohlen zu seiner Nachbarin herüber. Was sollte nun geschehen?
Als er jedoch auf ihrem Gesicht ein fröhliches Lächeln entdeckte, dachte er zuerst, dass er es allen Anschein nach mit einer Geisteskranken zu tun hatte, was er ja eigentlich schon immer geahnt hatte.
Da war er vor Sorgen um die Kinder halb wahnsinnig, sie dagegen schien nun vollends übergeschnappt zu sein.
Bis er endlich in die Richtung schaute, in welche Frau Wenzel so glücklich lächelte.
Dort, am untersten Punkt der Schlucht, sah er sie dann auch, die zwei kleinen Gestalten. Sie wandelten vorsichtig auf einem schmalen Pfad, der das gesamte Tal durchzog.  Die eine etwas größer und kräftiger als die andere, welche lange dunkle Haare hatte. Herr Gärtner sprang auf.
„Die Kinder“ rief er aufgeregt.
Inzwischen war auch Frau Wenzel aufgestanden. Herr Gärtner begann sogleich mit dem Abstieg. Besorgt sah ihm Frau Wenzel nach. Wenn er nur nicht stolperte und den Hang hinunterstürzte.
Die Kinder hatten ihre Eltern, bzw. die eine ihren Vater, die andere die Mutter, jetzt auch entdeckt und warteten unten in der Schlucht auf sie. Nach mehreren Stolperern und Beinah - Abstürzen, schloss Herr Gärtner – endlich unten angelangt- seine Tochter in die Arme.
„Mein Gott“ sagte er immer wieder „Wieso seid ihr bloß alleine in den Wald gelaufen?“
Auch Frau Wenzel schloss ihre Tochter in die Arme.
„Du weißt doch, dass du nicht vom Weg abgehen sollst“
„Ach Mutti, wir haben Rehe gesehen. Wir wollten sehen, wohin sie gelaufen sind.“
„Was macht ihr bloß für dumme Sachen.“
Inzwischen war es fast ganz dunkel geworden. Sie standen immer noch alle zusammen unten in der Schlucht .
„Wie sollen wir denn jetzt wieder nach Hause kommen?“ fragte Herr Gärtner. „Wir würden uns mit Sicherheit verlaufen.“
„Ich schlage vor, wir übernachten hier und gehen erst morgen früh nach Hause, wenn es wieder hell geworden ist.“
Herr Gärtner stand mit offenem Mund und vor Entsetzen stumm da. Dann polterte er aufgeregt los:
„Sind Sie denn wahnsinnig? Wo sollen wir denn hier übernachten? Die Kinder werden erfrieren!“

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